Jeder ist mal Ultimo beim Plaudertreff an der Supermarktkassa.
Katalanen-Klischee-Alarm: Stolz und unnahbar, tendenziell eher knurrig, unfreundlich und rücksichtslos, nationalistisch, unbelehrbar, sowie sehr leicht beleidigt.
Nach guten vier Wochen hier in Barcelona und einigem Katalanenkontakt muss ich sagen: Ich kann diese Klischees wirklich absolut nicht bestätigen. Die Menschen, die wir bisher hier kennengelernt haben, waren durchwegs sehr herzlich und freundlich, gut gelaunt, hilfsbereit und zuvorkommend. Ich wage auch zu behaupten, dass das nicht die Ausnahmen waren, die die Regel bestätigen, sondern man diese Begegnungen durchaus als exemplarisch für die Art der meisten Barcelonesen bezeichnen kann.
Ich werde sicher noch oft und viel über die Einwohner dieser schönen Stadt berichten, heute möchte ich gern eine Beobachtung, die wir fast täglich machen können, in den Vordergrund stellen und anhand eines schönen Beispiels illustrieren. Es geht ums Anstellen, laut Duden das „sich anreihen, sich in eine Reihe von Wartenden stellen (um abgefertigt zu werden oder etwas zu erhalten)“.
Eine Warteschlange österreichischen Formats sucht man hier vergebens. Wobei man bei uns ja auch nur in sehr geregelten Ausnahmen (die müssen dann extern geregelt sein, beispielsweise durch Absperrbänder oder Nummernausgabe – und selbst die versuchen die ungeduldigen Österreicher noch sehr gern zu umgehen) wirklich von WarteSCHLANGEN sprechen kann. Wer an die wogenden Menschentrauben am Theaterbuffet, den spitzen-Ellenbogen-Salat der Mitreisenden beim Einsteigen in Bus oder Bahn, oder das hektische Geschiebe beim Flugsteig denkt, wird mir vermutlich recht geben, oder? Mir persönlich ist das Vordrängen wirklich sehr zuwider. Einerseits habe ich mit meinen 1m62 schon körperlich wenig Chancen gegen größere Drängler, andererseits widerstrebt es auch ganz immens meinem Gerechtigkeitsempfinden. Wer zuerst da war, sollte auch zuerst die erWARTETe Leistung bekommen, oder etwa nicht? Die Barcelonesen sehen das offenbar genauso. Egal wo, egal worum es geht, es bildet sich eine ordentliche und vor allem sehr geduldige Schlange. Jeder Neuankömmling fragt den Letzten der Reihe höflich „ultimo?“ (bist du der Letzte?), um sich dann ganz selbstverständlich dahinter anzureihen. Wer sich nicht hinter dem Ultimo einreiht, sondern absichtlich oder versehentlich eine vorteilhaftere Position weiter vorne einnimmt, wird von den anderen Wartenden ganz schnell an seinen vorgesehenen Platz, den ultimo, gewiesen. Dabei wird aber nicht gekeppelt, sondern einfach nachdrücklich und selbstbewusst, und immer noch freundlich auf das „Versehen“ des Vordränglers hingewiesen. Der tut dann wirklich gut daran, sich möglichst schnell nach hinten zu schleichen. Zum besonders guten Ton gehört es auch, jemanden vorzulassen. Beim Fahrkartenzwicker in der Straßenbahn habe ich schon einmal eine quasi-Pattsituation zweier besonders höflicher Barcelonesen erlebt: Beide hatten sich zeitgleich dem Automaten genähert und keiner wollte vor dem anderen den Fahrschein entwerten, es gab schließlich keinen klaren Ultimo – „bitte nach Ihnen“, „nein, bitte nach Ihnen“ – „aber ich bitte Sie“ – „aber absolut, bitte Sie“… Dieser Tanz am Entwerter wäre vermutlich noch bis zur Endstation weitergegangen, hätte nicht schließlich ein deutscher Tourist, der das offenbar nicht so mitbekommen hatte, seinen Fahrschein einfach dazwischengeschoben und mit einem lauten „Ping!“ dem Höflichkeitstango ein Ende gesetzt.
Eine der häufigsten Warteschlangensituationen im Alltag ergibt sich vermutlich an der Supermarktkassa. Für die muss man hierzulande definitiv mehr Zeit mitbringen, als daheim in Österreich. Langsam und mit Ruhe werden die Einkäufe aufs Förderband geräumt, der Kassier zieht sie ebenso langsam und mit Ruhe über den Scanner auf die andere Seite der Kassa, wo sie erst mal liegen bleiben. Eingeräumt wird mit Bedacht erst ganz zum Schluss. Bevor bezahlt wird, plaudert man ganz gern noch ein paar Worte mit dem Hintermann in der Warteschlange, wobei das Kassapersonal da auch ganz gerne mitplaudert. Wenn das Thema spannend ist, kann das durchaus auch ein Zeiterl in Anspruch nehmen. Ebenso darf man sich ruhig dabei Zeit lassen, seine Münzvorräte nach den kleinsten Kupferstückchen zu durchforsten. Da zuckt niemand auch bei vollster Kassenauslastung auch nur mit der Wimper, geschweige denn werden die Leute nervös oder ungeduldig. Man wartet einfach die paar Minuten länger – und erspart sich Ärger und Stress, denn: Was würde es an der Situation schon ändern, sich darüber aufzuregen? Man würde den Prozess vielleicht um ein paar Sekunden beschleunigen. Der Preis in Form von viel negativer Energie, Stresshormonen und Ärger ist es aber definitiv zu hoch. Da ist es im Zweifel doch lustiger, einfach mitzuplaudern.
Eine der bemerkenswertesten Warteschlangenbeobachtungen machen Klara und ich eines Samstags vor ein paar Wochen. Wir sind hier im Grätzel im Supermarkt einkaufen. Es ist ein relativ kleiner Markt (zumindest die Klosterneuburger werden sich auskennen, wenn ich sage: ungefähr Billa Leopoldstraße), es gibt zwei Kassen, es ist insgesamt wenig los. Wir kaufen einiges ein, füllen eines dieser tiefen Rollkörbchen bis an den Rand und dann geht’s ab zur Kassa. Nachdem im Geschäft wenig Einkäufer unterwegs waren, sind wir umso überraschter, als uns an beiden Kassen wirklich sehr lange Schlangen erwarten – so lange Schlangen nämlich, dass einem die Lust aufs Eingekaufte gleich vergeht (wiederum werden die Klosterneuburger wissen, wovon ich spreche, wenn ich sage: Intersparkassa am Vormittag des 24.12.). Nun, wie gesagt, es hilft ja nichts. Wir kennen uns schon aus, erkundigen uns höflich nach dem „Ultimo“ und reihen uns entsprechend ein. Warten. Und warten. Warten weiter und länger. Es bewegt sich nichts, wirklich gar nichts. Die Minuten vergehen, niemand zahlt, es herrscht an beiden Kassen absoluter Stillstand. Beide Angestellte, ein Kassier und eine Kassiererin, sitzen und warten. Die Einkäufer stehen und warten. Aber niemand fragt auch nur nach, warum das so ist. Gleichzeitig regt sich aber auch niemand auf.
Auf einmal ein schrilles Geräusch. Alles schreckt hoch. Ein Telefon schellt blechern und laut an einer der Kassen. Die Kassiererin hebt ab, lauscht offensichtlich einer Erklärung, die sie mit Kopfnicken und „si… aha… si… vale“ beantwortet (vale = alles klar). Der Kassier und alle Einkäufer beobachten sie dabei gespannt. Sie legt auf und redet mit dem Kassier über das Telefonat. Schön langsam kristallisiert sich heraus, dass der Kassier offenbar technische Probleme mit seiner Kassa hat – die Kassa der Kassiererin aber funktioniert. Die Kassiererin kassiert aber auch nicht, weil sie dem Kassier bei der Lösung seiner technischen Probleme helfen will.
Inzwischen wird es einem Herrn vor uns dann aber doch zu bunt. Er kann offenbar nicht länger warten. Auch er hat sein Rollkörbchen ganz voll gefüllt, anstelle es aber einfach stehen zu lassen und aufgebracht schnaubend das Geschäft zu verlassen, zieht er mit seinem Körberl kreuz und quer durch den Supermarkt und bringt jedes einzelne Stück daraus an den richtigen Platz im Regal zurück. Das leere Körbchen ordnet er sorgfältig beim vorgesehenen Stapel an der Kassa ein, verabschiedet sich freundlich und geht. Zu behaupten, er hätte dabei einen gut gelaunten Eindruck gemacht, würde zu weit führen – er scheint aber zumindest neutral und gar nicht verdrossen (was man ihm in der Situation ja auch nicht verübeln hätte können…).
Und wir? Warten noch immer. Mittlerweile stehen wir seit einer guten Viertelstunde am selben Platz ohne nennenswerte Aussicht darauf, dass sich da bald was ändern könnte. Der Kassier und die Kassiererin schrauben an der Kassa des Kassiers herum, die Wartenden rundherum nutzen die Zeit und -- plaudern, was sonst.
Nach einigem Hin und Her bezieht die Kassiererin wieder ihren Kassaplatz. Da ertönt das Signal des Aufbruchs: Mit dem wohlbekannten Piep! Piep! ziehen die ersten Einkäufe über den Scanner. Der Kassier indes weist die Leute in der Schlange vor seiner Kassa an, sich bei der anderen Kassa einzureihen. Daraufhin schreien alle durcheinander. „Señor!“, „Señora!“ rufen die Leute in der Schlange vor der Kassiererin und weisen den Glücklosen aus der Schlange des Kassiers den ihnen fairerweise gebührenden Platz zu. Mit viel Gescharre, Hin und Herrücken, Diskutieren (natürlich kommt auch das höfliche und beliebte „nach Ihnen, nein nach Ihnen, nein wirklich nach Ihnen…“-Spiel in der Situation nicht zu kurz) stehen schließlich alle an genau dem Platz nach der Reihenfolge ihres Eintreffens an der Kasse – egal an welcher der beiden sie sich ursprünglich angestellt hatten. Das führt sogar so weit, dass eine Dame, die bei der Kassiererin bereits ihren Einkauf am Förderband liegen hatte, entgegen aller Proteste der Dame, die ihre Einkäufe bereits am Förderband des Kassiers liegen hatte, ihre Einkäufe wieder vom Förderband herunterräumt und der Dame, die ihre Einkäufe bereits am Förderband des Kassiers liegen hatte, dabei hilft, diese zur anderen Kassa hinüberzutragen und aufs Förderband der Kassiererin zu legen. Klara und ich beobachten das alles staunend, als mich schließlich noch ein älterer Señor anspricht. Er meint, ich hätte eigentlich einen Platz weiter vorne, vor einem anderen Señor für mich reklamieren sollen. Ich habe das gar nicht so aufmerksam beobachtet, und insgeheim ist es mir auch ziemlich egal – nach der langen Warterei kommt es auf die paar Minuten auch nicht mehr an. Dem älteren Señor und dann auch noch einer anderen Señora, die das zufällig mitanhört, ist das aber alles andere als gleichgültig. Sie schreien so lange „Señor! La Señora!“ und deuten dabei auf mich, bis der Betroffene uns endlich ganz höflich vorlässt. Dann wird weiter gewartet und geplaudert, die Kassiererin plaudert, der Kassier, dessen Kassa ja nun wirklich außer Betrieb ist, nutzt die Zeit zum netten Plaudern, und die Stimmung ist insgesamt gesellig und gut. Niemand (mit Ausnahme von Klara und mir) scheint die Situation auch nur ansatzweise skurril zu finden.
Beim Hypermarkt Carrefour hier in Barcelona kann sich so etwas gleich von vornherein nicht ergeben. Insgesamt gibt es 18 Kassen, bei denen man sich aber an nur einer einzigen Schlange anstellt. Wenn man an Reihe ist, ertönt durch den Lautsprecher die Aufforderung, zu welcher Kassa man sich begeben sollte. Hat eine Kassa also technische Probleme, federn das die anderen Kassen leicht ab. Für die Einkäufer bedeutet das wiederum, dass alle mit den gleichen Voraussetzungen angestellt sind – man muss sich also nicht den üblichen Stressgedanken („eh klar, an jeder Kassa geht es immer schneller, als an der, an er ich mich angestellt habe“) hingeben, sondern kann, wenn man will, einfach ein bisserl mit den anderen Leuten in der Schlange plaudern. Denn wie man weiß, und das wissen auch die österreichischen Vordrängleropportunisten, „durch’s Reden kommen d’Leit zsamm“ – auf jedem Fall ist es weit empfehlenswerter als Stressen und Ärgern, oder?
So sieht das in der Praxis aus (ich habe das Foto aus meiner Pole-Position in der „Fila Unica“, also „einzigen Schlange“ aufgenommen, hinter mir waren zu dem Zeitpunkt sicher noch gut 15 andere Leute):