Im Hausarrest.

„Life is what happens to you while you’re busy making other plans” sang dereinst der hochverehrte John Lennon und wie recht er damit hatte und immer wieder haben sollte, zeigt uns das Leben gern tagtäglich und immer wieder aufs Neue. Meistens und zum Glück handelt es sich dabei auch nur um kleine Alltagsänderungen, die jeder von uns in seiner Sphäre, je nach Veränderungsneigung und ganz individuell, als einschneidend/ärgerlich/lustig/wurscht empfindet.

Ein alltagsübliches, recht profanes Beispiel für uns in unserer privilegierten europäischen Position könnte sein: „Broccoli heute im Supermarkt ausverkauft“. Die Bandbreite der möglichen Reaktionen: Erleichterung: „Yippieyeah, jetzt gibt’s doch keine Broccolisuppe“ über Kompromissbereitschaft: „na gut, dann nehm ich halt den Karfiol“ bis hin zu Enttäuschung: „na geh, den ganzen Tag hab ich mich schon auf den Broccoli gefreut und jetzt sowas!“. Warum ich so ein banales Beispiel gewählt habe? Weil ich damit untermauern will, dass das Leben, das wir hier in Europa kennen, nur selten auf eine größere Probe gestellt wird – als Kollektiv meine ich jetzt. Wir leben seit Jahrzehnten in Demokratien, im Frieden, im Wohlstand, in Sicherheit, haben Zugang zu Bildung und Sozialleistungen. Natürlich erlebt jeder von uns bisweilen auch sehr große, sehr schmerzhafte Einschnitte, die das Leben in seinen Grundfesten erschüttern und die bisherige Lebensführung unmöglich machen – aber, so wie wir das hier kennen, passiert das eben nur ganz individuell und in der Regel nicht alltäglich.

Bis vor drei Wochen hätte ich das auch niemals anders für möglich gehalten. Ich denke, mit dieser Naivität bin ich auch nicht ganz allein. Das schreibe ich euch aus dem Hausarrest in Barcelona – der 20. Tag liegt fast hinter uns und ich bin froh, dass wir wieder einen Tag abhaken können.

Wie schnell der Hausarrest zum Alltag geworden ist, kann ich selbst immer noch nicht fassen. Die ganze Situation ist so surreal, dass ich mich jeden Morgen aufs Neue daran erinnern muss, dass das nun wirklich unser Leben ist und nicht einfach nur ein schlechter Traum. Ab Anfang März hat sich hier eine Abwärtsspirale zu drehen begonnen, die täglich an Geschwindigkeit zugenommen hatte und in ihrer Dynamik unaufhaltbar wurde. Zur Veranschaulichung, hier die Chronologie der Ereignisse in Spanien, aus unserer eigenen Sicht (die öffentliche Sichtweise ist euch sowieso bekannt):

Freitag 6.3.: Meine Schulfreundinnen aus Klosterneuburg kommen für ein Mädelswochenende nach Barcelona. Wir diskutieren kurz davor wegen „Corona“, tun es aber allesamt ab und fühlen uns nicht bedroht. Zu diesem Zeitpunkt gibt es in ganz Katalonien (das ja immerhin weit über 7 Millionen Einwohner hat) lediglich eine Handvoll offizieller Fälle. Wir genießen den Tag, spazieren durch die Stadt, die voller Leben ist – sitzen in kleinen Lokalen, dicht an dicht mit anderen Gästen, drängen uns in der Ubahn und in kleinen Boutiquen.

Samstag 7.3.: Es gibt ein paar wenige Coronafälle mehr in Katalonien. Wir gehen schön frühstücken in einem netten kleinen Cafe, danach haben wir Karten für die Sagrada Familia, durch die sich, wie üblich, die Touristenmassen durchschieben. Die Audioguides desinfizieren wir selbst mit mitgebrachten Desinfektionstüchern (sicher ist sicher!), sonst verschwenden wir kaum einen Gedanken an „den Virus“. Später geht’s nach Barceloneta an den Strand. Im Fußballstadion Camp Nou sitzen derweilen 90.000 Menschen und jubeln dem FC Barcelona zu.

Sonntag 8.3.: Weltfrauentag. In ganz Barcelona finden Frauentagsaufmärsche statt. Massen an Menschen schieben sich durch die Straßen. Wir besichtigen die wunderbare Casa Batllo und lassen uns am Passeig de Gracia, der ausnahmsweise autofrei und von Künstlern und deren Publikum bevölkert ist, treiben.

Das war vor drei Wochen und zwei Tagen. Heute kann ich mir das nicht mal mehr vorstellen – wie unbeschwert wir noch waren, wie selbstverständlich und einfach da alles noch war. Wenn ich mir die Fotos von diesem letzten normalen Wochenende ansehe, kann ich es kaum glauben.

Montag 9.3.: Ich buche einen „Cupcakes-Workshop“ in einer supernetten Bäckerei für Klaras Kindergeburtstag am 20.3. und überweise gleich die Anzahlungsgebühr zur Bestätigung der Reservierung. Vier Freundinnen sollen daran teilnehmen, gemeinsam Cupcakes backen und verzieren und danach noch bei uns schlafen. Klara überlegt, ob ich für ihre Freundinnen „Minipizzas“ oder „Burger“ zum Abendessen richten soll. Pauli und Rosemarie sind beleidigt, weil sie laut Klara nicht am Matratzenlager mit Klara und ihrer Girlsgang schlafen dürfen. Ich freue mich auf den Besuch meines Bruders mit seiner Frau und meinen Nichten, die am Mittwoch Abend in Barcelona ankommen sollen, und plane gemeinsame Unternehmungen.

Die Einladungen, die Klara für ihre Freundinnen gebastelt hat...

Dienstag 10.3.: Zu Mittag ruft mein Bruder Georg mich an und unterbreitet mir, dass sie nach Abwägung aller Risiken beschlossen hätten, doch nicht zu kommen. Barcelona sei gar nicht das Problem, hätte ihm auch das österreichische Außenministerium bestätigt, nur die Flugreise sei natürlich riskant. Ich habe Verständnis, bin aber sehr enttäuscht und traurig. So schlimm ist es doch bei uns noch gar nicht! Im Hintergrund dreht sich die Spirale schön langsam warm. In Wien findet eine Pressekonferenz statt, in der der Bundeskanzler, der Innen- und der Gesundheitsminister die Corona-Strategie der österreichischen Bundesregierung vorstellen. Der FC Barcelona, der, wie gesagt, nur drei Tage zuvor noch vor einem ausverkauften Haus gespielt hatte, gibt bekannt, dass das Champions League Match am 18.3. gegen Napoli ohne Publikum stattfinden werde.

Mittwoch 11.3.: Wir sind mit Rosemarie bei unserem hiesigen Kinderarzt zur Kontrolle nach einer bakteriellen Infektion. Sie ist wieder ganz gesund, Dr. Faust (ja, wirklich! Allerdings kein Heinrich.) ist sehr zufrieden mit ihr und wir sind sehr erleichtert. Wir wollen sie trotzdem erst in der kommenden Woche wieder in den Kindergarten geben, die Infektion hat sie geschwächt und die Antibiotika machen müde. Am späten Vormittag macht ein Gerücht in einer der Eltern-Whatsapp-Gruppen der Deutschen Schule die Runde: Angeblich seien die Kinder angewiesen worden, alle Schulsachen mit nach Hause zu nehmen, um auf eine mögliche Schulschließung vorbereitet zu sein. Ich versuche, aufkommende mulmige Gefühle einfach von mir wegzuschieben. Die Spirale dreht sich schneller.

Donnerstag 12.3.: In der Früh schreibe ich nach Rücksprache mit Rudolf ein vorsichtiges Mail an die Mütter von Klaras Geburtstagsgästen. Eventuell könnte die Party doch nicht wie geplant stattfinden, wir ließen das mal auf uns zukommen. Am Vormittag ist es dann plötzlich offiziell: Die Regierung ordnet die Schließung aller Schulen ab Montag, 16.3. an. Schon wenige Stunden später wird diese erste Anordnung für nichtig erklärt und die sofortige Schließung der Schulen erwirkt. Das CL-Match am 18.3. wird komplett abgesagt. Ein weiteres Zeichen dafür, wie schnell sich die Spirale zu diesem Zeitpunkt schon dreht. Die Kinder kommen mit Sack und Pack nach Hause, keiner weiß, wann sie die Schule, ihre Freunde und Lehrer wieder sehen werden. Ich bin froh, alle zuhause zu haben – ich habe das ganz starke Bedürfnis nach Einigelung. Das Gefühl, dass alles Böse draußen bleibt, sobald man die Türe zusperrt, ist ganz stark in dieser Hilflosigkeit. Die Kinder jubeln über die Schulschließung: unverhoffte Ferien!

Freitag 13.3.: Das Wetter ist schön, draußen ist die Hölle los. Die Parks und Straßen sind voll von spielenden Kindern – es ist ja keine Schule! Ich möchte Spaghetti kochen und spaziere zum Supermarkt, um Faschiertes und Gemüse einzukaufen. Ernüchtert und schockiert kehre ich heim. Der Supermarkt ist praktisch leergekauft, die Regale bis auf wenige Ausnahmen vollkommen geleert, die Stimmung ist aggressiv und hektisch. Etliche Einkäufer (wie auch ich) fotografieren und filmen die Endzeitstimmung.

Am Nachmittag gehe ich mit den Kindern in den Garten mit Pool und Spielplatz, der zu unseren Häusern gehört. Da lässt sich die Schulschließung leichter ertragen. In den öffentlichen Park möchte ich mit ihnen nicht mehr gehen. Dass ich mich nicht mehr lang an dem Garten erfreuen werde können, ahne ich in dem Moment noch nicht. Wir essen Muffins, spielen Frisbee und Klara macht ein paar „Stunts“ auf der Schaukel. Die Sonne scheint warm, die Papageien in den Palmen neben dem Spielgerüst krächzen und keifen. Wir sprechen darüber, ob wir nicht bald den Pool nützen werden können. Pedro, unser lieber und treuer Conserje, kommt vorbei. Er zeigt mir die blühenden Strelitzien und wir freuen uns gemeinsam darüber, dass endlich der Frühling kommt. „Wie schön es ist, einen Garten zu haben“, sage ich zu ihm. Er flüstert mir verschwörerisch zu, dass er von einer Hausbewohnerin, die gute Kontakte in die Generalitat hat, gehört habe, dass ab Montag der komplette Lockdown, inklusive Hausarrest, kommen sollte. Zumindest haben wir den Garten, denke ich mir da – auf die Straße will ich mit den Kindern ohnehin nicht mehr gehen. Am Abend wird das Gerücht offiziell bestätigt: Ab Montag 8h wird eine Ausgangssperre gelten.

Samstag 14.3.: Am Vormittag ziehe ich nochmals los zum Supermarkt, vielleicht kriege ich ja doch noch Faschiertes für die Spaghettisauce? Im Nachhinein muss ich über mich selbst den Kopf schütteln. Die Situation im Supermarkt wirkt apokalyptisch – der Ansturm am Tag davor war da noch gar nichts dagegen. Die Leute dichtgedrängt vor den Kassen, manche haben zwei, drei Einkaufskörbe voll beladen, der Sicherheitsdienst völlig überfordert. Unverrichteter Dinge drehe ich um und gehe ums Eck zum kleinen Greißler, der zwar teurer, aber dafür fast menschenleer ist. Ich kaufe Milch und Eier, sowie noch ein paar Naschereien für Klaras Geburtstag am folgenden Montag. Ich plaudere wie gewohnt mit der Kassiererin, eine ältere Señora lässt sich vom Kassierer die Einkäufe im Wagerl nach Hause schieben. Hätte ich die Szene im Diskonter davor nicht erlebt, wäre mir alles wie sonst auch immer erschienen. Am Nachmittag spielen die Kinder und ich wieder im Garten.

Später suche ich die Trafik gegenüber auf, die nicht nur Zeitungen, sondern auch allerhand Krimskrams, unter anderem Balkonpflanzen, verkauft. Ich möchte zwei schöne Blumenstöcke für den Balkon kaufen. Wenn wir schon viel Zeit zuhause verbringen werden müssen, soll es wenigstens schön und bunt sein, denke ich mir. „Wirst du dein Geschäft zusperren müssen?“ frage ich die Trafikantin. „Ich weiß es noch nicht, aber ich glaube schon“, antwortet sie mir. „Vielleicht darf ich zumindest die Tageszeitungen weiter verkaufen, man wird sehen.“ Über ihrem Kopf flimmert wie immer der TV im Dauermodus. Normalerweise laufen in ihrem Geschäft die schönsten südamerikanischen Telenovelas. Heute hat sie umgeschaltet auf den Nachrichtensender: die aktuellen Coronazahlen in Spanien. Ich packe meine Blumen, wir verabschieden uns herzlicher als sonst. „Bleib gesund!“ ruft sie mir noch zu. Dass das mein letzter Einkauf für fast zwei Wochen sein würde, weiß ich zu dem Zeitpunkt auch noch nicht. Am Abend die letzte Meldung: Die Ausgangssperre wird vorgezogen und bereits ab Sonntag 0h gelten.

Sonntag 15.3.: Ich telefoniere mit einer Freundin, die Mutter eines Kindergartenfreunds von Rosemarie. „Dürft ihr euren Gemeinschaftsgarten noch nützen? Unserer ist seit gestern gesperrt!“ erzählt sie mir. Mir schwant Übles. Ich packe am Nachmittag die Kinder noch einmal zusammen und ordne einen allerletzten Spaziergang an. Klara motzt, sie hat keine Lust. Ich bin hypernervös, der Spaziergang findet statt und punktum. Wir drehen eine Runde vor bis zum Stadion, wo normalerweise die Touristen in rauen Mengen unterwegs sind. Am Weg begegnet uns nur ein Spaziergänger mit Hund. Keine Autos auf der Straße. Die Stimmung ist fast unheimlich, obwohl die Sonne vom Himmel lacht, die bunten Blumen blühen und die Papageien wie immer krächzen und keifen. Unser letzter Spaziergang auf unbestimmte Zeit. Ab sofort darf nur mehr eine Person aus dem Haushalt das Haus verlassen und das auch nur aus vier möglichen Gründen:

  • Einkauf im Supermarkt/in der Apotheke
  • Weg zur/von der Arbeit
  • Wenn man eine pflegebedürftige Person zu versorgen hat
  • Gassi mit dem Hund

Das wird durchaus kontrolliert und gestraft. Regelmäßig sehen wir die Polizei unter unserem Balkon vorbeispazieren. Manche wollen mit gefinkelten Tricks die Ausgangssperren umgehen: In der Zeitung lese ich von einem Andalusier, der mit einem alten harten Brot unter dem Arm von den Beamten aufgegriffen wurde. Seine Behauptung, er hätte dieses Brot eben in der Bäckerei gekauft, hat ihm keiner abgenommen – dafür hat ihn sein illegaler Spaziergang dann 600 Euro gekostet.

Montag 16.3.: Erster kompletter Hausarresttag und Klaras 11. Geburtstag. Es regnet in Strömen, es stürmt, die Wetterdienste melden eine „Schwere Küstenwarnung“. Da fällt die Ausgangssperre erst mal nicht so schwer. Rosemarie meint: „So ein Glück, dass wir heute nicht rausgehen dürfen!“ Unten im Foyer des Hauses klebt ein Zettel, der die Sperrung des Gartens, sowie des gemeinschaftlichen Tischtennisraums bestätigt.

Dienstag 17.3. bis heute…

Wir haben uns einen strengen Rhythmus auferlegt, nach dem wir den Alltag im Hausarrest strukturieren.

Frühstück

Homeschooling-Zeit

Vormittagspause/jause

Homeschooling-Zeit

Mittagessen

Ruhestunde, wenn möglich in der Sonne am Balkon

Sporteinheit mit Youtube

Jause

Eventuell noch Homeschooling, wenn noch was offen ist

Fernsehen

Abendessen

Schlafengehen

Paul beschreibt das in einem Mail an seine Volksschullehrerin Frau Otte folgendermaßen: „In der Früh mache ich immer meine Aufgaben. Nach dem Mittagessen machen wir Ruhestunde auf dem Balkon. In der Ruhestunde lese ich ein Buch oder mache Rätsel. Danach turnen wir im Wohnzimmer. Nach dem turnen im Wohnzimmer dürfen wir immer was im Fernseher ansehen.

Jeden Tag machen wir das gleiche.

                                                              Dein Paul“

Die Deutsche Schule gibt ihr Bestes, den Unterricht aus der Ferne aufrechtzuerhalten. Da helfen die modernen Technologien schon entscheidend mit, dass das überhaupt funktionieren kann. Jeden Tag haben die Kinder die Möglichkeit, sich mit Lehrern und Klassenkameraden in Videokonferenzen auszutauschen. Selbst Rosemarie bekommt vom Kindergarten kleine „Arbeitsaufträge“. Natürlich sind wir als Eltern da auch sehr gefordert… allein die Übersicht zu bewahren, wer welchen Arbeitsauftrag wann zu erledigen hat, über welches Medium das der Schule rückgemeldet werden sollte, die Unzahl an Zettelwerk, das auszudrucken, zu sortieren und später wieder einzuscannen ist… für mich mit meinem Chaos ein absoluter Alptraum! Wie gut, dass ich so einen strukturiert denkenden Ehemann habe, der das alles stets im Überblick hat. Wir haben jedenfalls auch das Glück, die nötige „IT-Infrastruktur“ zuhause zu haben: 3 Laptops, 2 Tablets, 3 Handys und 1 Drucker. Bei drei Kindern und zwei (theoretisch) im Homeoffice arbeitenden Erwachsenen bleibt nicht mal bei dem großen Angebot für jeden zu jeder Zeit ein Arbeitsgerät übrig. Ich frage mich, wie das Homeschooling in Familien gelingen kann, die da nicht so gut ausgerüstet sind.

Was die Grundversorgung anbelangt: Wir haben alles, was wir brauchen. Die Supermärkte wurden nach dem ersten Hamsteralarm wieder aufgestockt, einige Dinge sind bisweilen ausverkauft, aber dann nimmt man halt etwas anderes. Rudolf ist bisher zwei Mal einkaufen gewesen, zwei Mal haben wir uns liefern lassen, ein Mal bin ich selbst gegangen. Ich hatte mich auf den Ausgang gefreut: Ein wenig die Füße vertreten, ein paar andere Leute sehen! Auf der Straße die Ernüchterung. Die Stimmung ist sehr gedrückt, die Menschen gehen stark auf Abstand. Wo sonst fröhlich geplaudert wird (hier in Spanien eigentlich immer und überall), herrscht Stille. Sogar Blickkontakt wird vermieden. Die sonst so spürbare Lebensfreude und Geselligkeit ist verloren gegangen. Ich meide den Diskonter, vor dem eine sehr lange Schlange auf Einlass (immer nur einzeln!) wartet und gehe wieder zum kleineren Greißler. Außer mir befindet sich nur ein anderer Kunde im Geschäft. Ich raffe schnell zusammen, was wir brauchen und gehe zur Kassa, wo die Kassiererin normalerweise immer etwas zu plaudern weiß. Sie schweigt, zieht die Einkäufe schnell und mit gesenktem Kopf übers Band. Ihr Kollege, der den älteren Herrschaften die Einkaufswagen normalerweise gegen ein kleines Trinkgeld nach Hause schiebt, ist nirgends zu sehen. An der Scheibe hängt ein Zettel: "Derzeit können wir unseren Kunden die Einkäufe leider nicht bis nach Hause tragen". Ich bin froh, wieder zuhause zu sein. Der langersehnte "Spaziergang" hat mich eigentlich nur traurig gemacht.

In unserem abgeschotteten Dasein kommt jedenfalls zu keiner Zeit Langeweile auf – im Gegenteil, es ist wirklich ständig was zu tun. Sogar der Musikunterricht der Kinder findet über Fernlehre statt. Was fehlt, sind natürlich die Sozialkontakte, die über unsere Fünferpartie hinausgehen. Wir telefonieren mehr als sonst über Whatsapp und mit Videofunktion, chatten viel und haben alle dabei eigentlich nur ein Thema: Die Gesundheit und wann die strengen Maßnahmen wohl gelockert werden können. Viele liebe Mails und Nachrichten haben uns erreicht und wir versuchen, alle zu beantworten – und vor allem, alle zu beruhigen! Uns geht es gut, es fehlt uns an nichts. Die Grundversorgung funktioniert, wir haben genug zu essen, ein Dach über dem Kopf und sind gesund. Damit, das muss man wirklich auch sagen, haben wir sogar in dieser für uns so unangenehmen Situation so viel mehr als ein großer Teil der übrigen Weltbevölkerung. Natürlich steigt der Lagerkollerpegel mit jedem Tag, der vergeht, aber noch sind wir guter Dinge und freuen uns auf die Zeit danach. Jeden Abend um 20h treten alle Nachbarn auf den Balkon hinaus, um zu applaudieren, zu jubeln und zu singen. Wir bedanken uns damit bei den Systemerhaltern – Ärztinnen und Ärzten, Pflegepersonal, sowie den Leuten, die in Supermärkten, Postämtern, Zustelldiensten usw. unsere Gesellschaft mit viel persönlichem Einsatz stützen. Der Applaus gilt aber immer auch ein wenig uns und einander – dadurch, dass wir ja außer der engsten Familieneinheit gar niemanden mehr sehen dürfen, ist das immer auch eine gegenseitige Bestärkung: „Wir sind alle da und stehen das durch! Im Herzen zusammen, wenn auch räumlich getrennt.“

Paul spielt jeden Abend am Balkon den Nachbarn auf der Trompete vor. (hier gibt es ein Video davon) Wenn die Europahymne über den weitläufigen Hof erklingt, jubeln die Barcelonesen um uns noch ein wenig lauter. Denn was könnte besser dazu geeignet sein als die „Ode an die Freude“ uns zu zeigen, wie wertvoll die Freiheit ist, die wir bisher immer als selbstverständlich betrachtet haben.

Wenn der Applaus abgeebbt ist, dreht eine Familie aus dem Haus gegenüber den Verstärker ihrer Soundanlage immer bis zum Anschlag auf und die zarte Stimme von Lucía Gil der wunderbaren „Oreja de Van Gogh“ erschallt über den Hof. „Volveremos a juntarnos“ – (grob: wir werden zurückkehren und zusammen sein, Video hier) singt sie und viele singen mit, schwenken Taschenlampen und Laternen. Kitschiger Pathos? Ja, mag sein. Und wer mich gut kennt, weiß auch, dass da selten ein Auge trocken bleibt bei mir. Es tut uns aber allen einfach gut und gibt uns Kraft, auch den nächsten Tag wieder durchzustehen.

Anders können wir es momentan nicht machen. Wir nehmen einen Tag nach dem anderen, wie auch immer er kommt. Bleibt alle gesund, meine Lieben! Wir umarmen euch ganz fest.

Hier noch ein paar Fotos aus unserem Quarantänealltag.

Paul im Chat mit seiner Grundschullehrerin.

Klara chattet mit ihren Klassenkolleginnen

    Rosemarie im Whatsapp Videocall mit den besten Kindergartenfreundinnen

     

Pauli und Rosemarie beim Erledigen der Arbeitsblätter

Gitarreunterricht per Skype

Gymnastik mit Youtube -- an der Synchronität müssen wir noch arbeiten (am Aufräumen des Wohnzimmers auch... )

Keksebacken und Kekseverzieren -- wer sagt denn, dass man das nur zu Weihnachten darf!

Klaras 11. Geburtstag

Paulis 9. Geburtstag

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