DIE QUAL DER WAHL ODER DIE WAHL DER QUAL? S’IST MAL WIEDER…ELTERNABEND.
Allerorten erschallt zu Beginn eines jeden Schuljahres der Ruf: „Eltern versammelt euch! Zum Elternabend!“. Das ist natürlich auch an der Deutschen Schule Barcelona so. Den Anfang macht der Elternabend in der dritten Klasse – Paulis 3e. Wie so vieles in Spanien beginnt auch der Elternabend mindestens 2h später als in Österreich üblich: Nämlich um 20h (zu einer Zeit also, wo er in Österreich schon seit einer guten Stunde wieder vorbei wäre). Angesetzt ist das Spektakel bis 22h – und das bringt mich gleich einmal zum Grübeln.
Die Schule ist in einem Vorort von Barcelona gelegen, sehr ruhig, sehr grün, sehr beschaulich. Untertags ist, abgesehen vom Schulbetrieb, relativ wenig los. Der Weg zur Schule führt uns von der Straßenbahnstation Pont d’Esplugues eine schmale Gasse hinauf, vorbei an einer Parkanlage, ein paar sehr kleinen Geschäften und einem Cafe. Dieses Gäßchen (Carrer de l’Iglesia, also Kirchengasse) mündet schließlich in eine dunkle Unterführung, die etwa 50m lang ist und unter der Stadtautobahn durchführt. Nach der Unterführung marschiert man ein Feld entlang (inklusive Schafen!), bis man schließlich bei einer Gärtnerei in die Avenida Jacinto Esteva Fontanet einbiegt, wo dann auch die Deutsche Schule beheimatet ist. Insgesamt sind es etwa 1,1km von der Straßenbahn bis vor das Schulhaus, also eine gute Viertelstunde zu Fuß. Wir gehen den Weg täglich mindestens zwei Mal – beim Bringen und Abholen. Am Tag ist die Gegend auch recht belebt, wenngleich für Barcelonesische Verhältnisse insgesamt eher ruhig.
Das Feld neben dem Schulweg
Wie sieht das allerdings um 22h aus? Dann ist es finster, es gibt keinen Schulbetrieb mehr, Gärtnerei, Boutiquen und das kleine Cafe haben schon geschlossen. Ist das eine Gegend, wo man des Nächtens in der Dunkelheit als Frau allein herumspazieren sollte? Grundsätzlich bin ich nicht sehr ängstlich und eigentlich überall zu Fuß unterwegs – allerdings muss man sein Schicksal natürlich nicht herausfordern! In einem fremden Land und in einer Gegend, die ich noch zu wenig kenne, als dass ich sie einschätzen könnte, ist das ja auch gleich wieder etwas ganz anderes. Ich beschließe, Erkundigungen einzuholen und frage Rosemaries Kindergärtnerin. Die antwortet ausweichend. Ja, meint sie, grundsätzlich sei es wohl schon ok, aber die dunkle Unterführung – nun, da muss man natürlich nicht unbedingt durchgehen mitten in der Nacht. Sie würde wohl eher ein Taxi rufen. Das beruhigt mich nicht im Geringsten! Ein Taxi möchte ich nicht nehmen, und an der Unterführung führt kein Weg vorbei! Ich kann schließlich nicht oben über die Autobahn klettern… wollte ich das Problem im wahrsten Sinne des Wortes umgehen, würde das einen Umweg von mindestens einer halben Stunde Fußweg bedeuten. Darauf habe ich naturgemäß auch keine Lust. Nun, dann geht es wohl nicht anders als nach dem Motto „Augen zu und durch“ und in dem Vertrauen, dass mir einfach nichts passieren wird.
Die Unterführung bei Tag...
Die Agenda für den Elternabend ist unauffällig. Vorstellung der Lehrer, Vorstellung der Unterrichtsinhalte, Infos über Organisatorisches, sowie Wahl der Elternvertreter. Ich habe etwas zum Schreiben und eine Flasche Wasser dabei, und hoffe, dass der Elternabend schnell und ereignislos über die Bühne gehen möge. Die meisten Eltern kennen einander (nun, es ist das dritte gemeinsame Schuljahr der Kinder), begrüßen sich mit Küßchen und plaudern fröhlich – zum Großteil in spanischer Sprache. Ich stelle mich bei den zwei Müttern und zwei Vätern vor, an deren Tisch ich mich gesetzt habe. „Ah, du bist also die Mama von einem der Neuen“, sagt der Vater zu meiner Linken relativ laut und einige andere Eltern an anderen Tischen drehen sich neugierig nach mir um. Ich lächle ein wenig verkrampft. Nachdem die Kinder in Klosterneuburg seit Klaras Kindergarteneintritt 2011 einen relativ vorgezeichneten Weg mit fast ausschließlich immer denselben Kindern gegangen sind und ich entsprechend auch immer mit denselben dazugehörigen Eltern zu tun hatte, ist das für mich auch recht ungewohnt, in diese Elterngemeinschaft als Neuling reinzukommen. „Unauffällig verhalten!“ lautet sodann meine Devise, und ich bin froh, als die Klassenlehrerin den Elternabend eröffnet. Wie in der Agenda angekündigt, werden die Lehrer und Unterrichtsinhalte vorgestellt (sympathisch, interessant), sowie organisatorische Themen erläutert (Turnpatschen, Hefte, Schulordnung, Klassenregeln, etc.).
Ich mache mir ein paar Notizen, einige Eltern stellen Fragen, hie und da brandet eine kleine Diskussion auf. So weit, so typisch Elternabend. Es ist 21h und immer noch ziemlich heiß, im Klassenzimmer steht die Luft. Die Klassenlehrerin (in weiterer Folge „KL“ genannt) reibt sich zufrieden die Hände und verkündet froh: „So, mit den Themen bin ich dann mal durch! Jetzt wählen wir noch die Elternvertreter, dann können wir alle schon weit vor der Zeit nach Hause gehen!“ Freude macht sich in den Gesichtern der Anwesenden bemerkbar. Dritte Klasse, da bestätigt man üblicherweise die Elternvertreter, die das schon in der ersten und zweiten gemacht haben. Easy Cheesy! Das weiß auch die KL. „Frau P und Frau A, können wir auch dieses Jahr wieder mit Ihrer Unterstützung rechnen?“ Frau A nickt freundlich, doch Frau P antwortet: „Nein! Ich werde aus verschiedenen Gründen nicht mehr zur Verfügung stehen.“ Ein Paukenschlag! Kurze Überredungsversuche rundherum, doch Frau P ist sich ihrer Sache sicher. Nun, dann muss sich jemand anderer zur Verfügung stellen. Erwartungsvoll blickt die KL in die Runde. Die meisten Eltern finden auf einmal die Tischplatte, ihre Schuhspitzen oder die Deckenpaneele so interessant, dass sie ganz konzentriert darauf starren müssen. Auch ich weiß: Nur kein Blickkontakt – zu niemandem! Ich wiege mich allerdings eh in der Sicherheit, dass ich als „Die Neue“ für eine Elternvertreterinnenrolle niemals in Frage kommen kann. Ich bin also aus dem Schneider, sozusagen, und warte nur darauf, dass sich endlich jemand meldet. Einige Personen werden angesprochen, alle winken ab. Die Minuten vergehen. „Gibt es denn wirklich niemanden, der das machen möchte?“ ruft die KL. Scharren, Räuspern, Stille.
Da ruft der Vater zu meiner Linken: „Eine der neuen Mamas könnte es doch machen! So können sie sich gleich positiv in die Klassengemeinschaft einbringen!“ Erleichterte Begeisterung rundherum, bei allen, die keine Neuen sind – und das sind alle außer drei. „Ja, super Vorschlag! So machen wir es!“ „Tolle Idee! Wo sitzen die Neuen? Meldet euch doch mal!“ Mir gefriert das Blut in den Adern. Der Vater zu meiner Rechten schreit: „Hier! Das ist eine neue Mama!“ Alle Blicke auf mir. Jetzt ziehe ich auch noch eine richtig schöne rote Farbe auf, Schweißperlen sammeln sich auf meiner Oberlippe. Innerlich denke ich mir richtig schön Wienerisch: „Heast! Oidaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa! Das darf ja wohl nicht wahr sein!“ Nach außen grinse ich lieblich wie Batmans Joker mit meinem roten Plutzer und schlage hektisch ein Bein übers andere und wieder zurück. Niemals hätte ich mit sowas gerechnet! In Österreich wäre es ziemlich undenkbar, dass jemand Neuer den Elternvertreter macht – entsprechend der österreichischen Tendenz zu Mieselsucht und Missgunst wäre die logische Reaktion: „ich will’s zwar selbst absolut fix sicher nicht machen, aber was glaubt die Neue eigentlich, kommt ganz neu hier her und muss sich gleich als Elternvertreterin wichtig machen?“
„Nein, nein! Bitte sicher nicht!“ kreische ich nervös mit schriller Stimme. Da meldet sich die zweite der neuen Mamas zu Wort: „Ich würde es ja machen! Auf jeden Fall! Leider sind wir nur bis Dezember da und insofern macht es doch keinen Sinn, nicht wahr? Ansonsten würde ich es unbedingt machen. Es ist ja wirklich eine gute Gelegenheit mitzugestalten und mitzuwirken.“ Wohlwollendes Nicken rundherum. Die Wienerin in mir denkt sich: „na oida, genau!“
Die dritte der neuen Mamas will und kann es auch nicht machen. Ein letzter Überredungsversuch in meine Richtung, doch auch ich bleibe standhaft, wenngleich ich dabei leuchte wie ein roter Luftballon. Das Etikett auf meiner Wasserflasche ist mittlerweile abgefitzelt, auf dem Tisch vor mir liegt ein Haufen klebriger Papierkrümel. Durch die offene Tür weht ein sanfter Luftzug leisen Applaus in den Raum. „Oh, da hat wohl eine andere Klasse gerade ihre Elternvertreter gefunden.“ sagt die KL mit leiser, resignativer Stimme. Durch die 3e flattert ein Falter, den alle angestrengt aufmerksam beobachten. Selten war ein Falter interessanter. Die Uhr über der Tafel zeigt 21h20.
„Was sagt die Wahlordnung? Da muss es doch Regeln geben, wie man mit so einem Fall umzugehen hat!“ ruft ein deutscher Vater. „WahlORDNUNG? Für den Elternvertreter?“ lacht ihn eine spanische Mutter aus. Die KL ist auch ratlos. „Ich muss gestehen, in meinen 20 Jahren als Grundschullehrerin hatte ich einen solchen Fall noch nie.“
„Wir lassen das Los entscheiden!“ ruft Frau P, die seit eben ehemalige Elternvertreterin. Eine hitzige Diskussion brandet auf. Losen wir unter allen Anwesenden oder unter allen, das heißt auch denen, die heute nicht da sind? Die Eltern sind gespalten. Sollen die, die nicht da sind, auch noch dafür belohnt werden? Bzw. kann man jemandem das Amt zulosen, der abwesend ist und sich gar nicht wehren kann? Die KL hält sich raus und beginnt, aus einem Zeichenblock rechteckige Zettel auszuschneiden.
Die Diskussion wird hitziger und hitziger, man sieht, da prallen Fronten aufeinander. Die KL schneidet und sortiert. Die Uhr über der Tafel zeigt mittlerweile 21h35. Die Diskussion bewegt sich schon in Richtung Streit. Da hebt eine Mutter die Hand und sagt laut: „Das wird mir jetzt zu blöd. Bevor das hier eskaliert, mache ich es halt.“
Kurze Stille, dann Applaus. Erleichterung allerorten. Die Heldin des Abends steht fest. Um 21h45 beschließt die KL den Elternabend, alle werden in die schwüle Nacht hinaus entlassen. Vor lauter Aufregung habe ich übrigens ganz darauf vergessen, mir wegen des finsteren Heimwegs Sorgen zu machen! So hat halt alles auch seine Vorteile. Wie ich gleich feststelle, waren alle Sorgen ohnehin wie so oft unbegründet. Des Abends tut sich auf den Straßen und Gassen von Esplugues mehr als jemals untertags. Sogar kleine Kinder sind noch unterwegs, es ist ohnehin noch zu heiß zum Schlafen. Die gruselige Unterführung ist des Nächtens ausgeleuchtet wie ein Operationssaal.
Eine Woche später findet der Elternabend in Klaras 5c statt. Ich bin diesmal doppelt gewappnet. Der nächtliche Weg macht mir keine Sorgen mehr und auch die Elternvertreterwahl wird mich nicht so kalt erwischen wie in der 3e! Die Agenda ist ähnlich wie bei Paulis Klasse, ein Punkt nach dem anderen wird abgearbeitet. Dann kommt die Elternvertreterwahl. Dadurch, dass die 5. Klasse ja die erste Klasse der Oberschule ist, müssen zwei ganz neue EV gefunden werden. Ich bin gespannt. Die KL hat kaum die Erläuterung der EV-Pflichten abgeschlossen, als sich schon ein Vater zu Wort meldet: „Ich will das gerne machen! Ich hab mir das schon im Vorfeld überlegt, mir würde das Spaß machen und ich stelle mich gern zur Verfügung.“ Wohlwollen und Erleichterung rundherum. Schön, dass jemand so engagiert ist. Die KL notiert den Namen des Freiwilligen auf der Tafel, unter der Überschrift „EV WAHL“. In die Stille ertönt auf einmal eine erregte Stimme: „Sicher nicht! Ich bin absolut dagegen! Er darf das nicht machen!“ Verwirrung. Macht da jemand einen Scherz? Einige lachen verhalten. „Nein, im Ernst! Das ist mein Exmann! Wenn er den EV macht, werde ich von allen Infos abgeschnitten! Ich bin absolut dagegen, dass er das macht! Er ist unfähig dazu!“
Alles erstarrt in Peinlichkeit. Ich merke, wie in mir ein grauenhaftes und unerträgliches Fremdschamgefühl aufsteigt. Da schreit der Kandidat quer über alle Köpfe hinweg (die beiden sitzen nämlich an entgegengesetzten Ecken des Klassenzimmers): „Führ dich bitte nicht so auf! Du machst dich ja lächerlich!“. „Lächerlich bist du!“ schreit sie zurück. Das Fremdschamgefühl wird nicht weniger. Die KL sieht aus wie vom Donner gerührt. Über die Köpfe aller Eltern hinweg entspinnt sich ein Wortduell, das darin gipfelt, dass die Exfrau keift: „Wenn er seine Kandidatur nicht zurückzieht, kandidiere ich eben auch! Nur so kann ich sicher gehen, dass ich die notwendigen Infos auch bekomme! Also! Ich stelle mich auch zur Wahl!“ Der Mann neben ihr, offensichtlich der neue Partner, tätschelt ihr beruhigend das Knie. Die KL schreibt den Namen der Exfrau unter den Namen des Exmannes auf die Tafel. Währenddessen geht das Streitgekreisch in die nächste Runde. Diese beiden Streithähne als „ElternvertreterTEAM“ – nun, ein Match made in Heaven für die Arbeit für die Klassengemeinschaft! Da meldet sich ein Vater zu Wort und spricht aus, was sich alle denken: „Können wir die privaten Themen bitte beiseite lassen? Bitte kann sich noch jemand melden, das können wir ja nicht so stehen lassen!“
Die KL nickt dankbar und sagt nur leise: „ich muss gestehen, ich bin mit dieser Situation jetzt gerade etwas überfordert!“
Zum Glück melden sich dann doch noch ein paar andere Eltern, die Wahl findet per Handzeichen statt, Wahlsieger werden zwei, die nie miteinander verheiratet waren und offenkundig auch keinen Anlass zum Streit miteinander haben. Vor lauter Erleichterung wird der letzte Agendapunkt „Klassenkassa“ gleich mal vergessen, mir fällt es auch erst zuhause auf. Offenbar ist an jenem Abend schon genug abgerechnet worden.